Die ZEIT Nr. 23 vom 02.06.2010, Seite 43

Feuilleton

Ein singender Punkt am Himmel

Am 8. Juni vor 200 Jahren wurde Robert Schumann geboren. Er gilt als Inbegriff des romantischen Komponisten. Ein Gespräch mit dem Musiker Heinz Holliger über kreativen Wahnsinn, komponierte Delirien und einen wunderschönen Dichtergarten

DIE ZEIT [Heinz Spahn]: Herr Holliger, Ihre Kompositionen nehmen immer wieder Bezug auf Robert Schumann. Sie dirigieren Schumann und beschäftigen sich intensiv mit seinem Leben und seinem Werk. Sie scheinen von diesem Komponisten einfach nicht loszukommen.

Heinz Holliger: Das ist schon etwas obsessiv, das gebe ich gerne zu.

ZEIT: Wann hat diese Schumann-Leidenschaft begonnen?

Holliger: Ich war 14 oder 15 Jahre alt, als ich in einem Konzert in Bern die Zweite Violinsonate und das g-moll-Trio hörte . Das sind als schwierig geltende Spätwerke, welche die meisten Leute von Schumann wegbringen. Bei mir war es umgekehrt. Es war wie eine Zündung, eine Flamme, die anging.

ZEIT: Und nie mehr erloschen ist?

Holliger: Im Gegenteil. Es wird mit zunehmendem Alter noch intensiver.

ZEIT: Woran entzündet sich dieses Feuer?

Holliger: Man kommt bei Schumann mit seinen analytischen Betrachtungen nie an ein Ende. Es gibt immer neue Türen, die sich öffnen. Nach der geöffneten Tür kommt eine weitere und dann noch eine und noch eine. In seinem Werk schießen spekulatives Denken und ein extrem labyrinthisches Vorstellungsvermögen zusammen. Schumann war ein hochgebildeter Mensch. Er hat mit 17 Jahren Sophokles übersetzt. Er war literarisch hochbegabt und neben Berlioz und Debussy wahrscheinlich der größte Schriftsteller unter den Komponisten überhaupt. Das macht ihn zu einer fast enzyklopädischen Figur. Zu einer kosmischen Figur, die keine Grenzen kennt. So ist auch seine Musik. Obwohl Beethoven für ihn ein großes Vorbild war, wollte er nie lineare Gedankenführungen in seinen Kompositionen realisieren. Es interessierte ihn nicht, von A nach B zu gehen. Er setzt, ausgehend von einer motivischen Urzelle, spiralförmige Bewegungen in Gang, die sich potenzieren, bis Riesengebäude entstehen. Diese Art in Assoziationen zu denken und immer neue spekulative Kreise zu ziehen, bewundere ich. Schumanns Musik ist im Wortsinne verrückt, von der Stelle ver-rückt. Der Taktstrich ist für ihn geradezu ein Martyrium. Fast immer verlagert er den schweren Taktteil. Er synkopiert die Hauptakzente oder legt verschiedene Zeitebenen übereinander. Es entsteht eine Art delirierende Zeit. Man spürt nicht mehr, wie die Zeit vergeht.

ZEIT: Schumann hat fieberhaft schnell komponiert und gleichzeitig war er in allen Dingen sehr pedantisch. Wie geht das zusammen?

Holliger: Es stimmt, er hat fast alles in Trance geschrieben, mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Und trotzdem zeichnet ihn enorme Selbstkontrolle aus. Er verfügte über ein vollendetes Formbewusstsein und ein kontrapunktisches Können, wie es außer Mendelssohn-Bartholdy zu jener Zeit keinem zweiten Komponisten gegeben war. Schumann war im Leben sehr ordentlich. Er hatte Jurisprudenz studiert, führte genau seine Haushaltsbücher, notierte im Ehetagebuch penibel sogar intimste Details. Auf der anderen Seite gab es diesen sprudelnden Überanteil an Unbewusstem, den er direkt aufs Papier brachte. Er schreibt rauschhaft und arbeitet dennoch mit einer unglaublichen Disziplin. Nach seiner wilden Zeit versuchte er, Ordnung in sein Leben zu bringen, er schrieb eine Zeit lang nur Lieder oder legte ein Streichquartett-Jahr ein. Konsequent kontrollierte er sich in seinen Arbeitsabläufen.

ZEIT: Aber unterhalb der Ordnung brodelten die Strömungen weiter.

Holliger: Das finde ich ja so großartig: Selbst in Schumanns formbewusstesten Stücken spürt man ständig dieses Reißen gegen die Form. Es ist immerzu eine heikle Balance zwischen Kontrolle und Eruption. Man findet das auch bei Hölderlin, der ja seiner Imaginationskraft die schwierigsten Versmaße verordnete. Er schrieb die größten rhythmischen Kunststücke, die je ein Dichter gewagt hat, und trotzdem stand das eine dem anderen nicht im Weg. Bei Schumann ist es ebenso.

ZEIT: Robert Schumanns Leben endet im Irrenhaus in Endenich bei Bonn. Er unternahm einen Selbstmordversuch, war geistig verwirrt. Um die Art von Schumanns Wahnsinn wird unter den Experten bis heute spekuliert und gestritten. War er schizophren?Welche Rolle spielte der Alkoholismus?Ging er an den Spätfolgen seiner Syphiliserkrankung zugrunde?An die Diagnosen werden dann gerne Urteile über die Qualität seiner späten Werke geknüpft. Wie sehen Sie das?

Holliger: Ich möchte betonen, dass Schumann freiwillig in die Klinik von Endenich eingetreten ist. Er wurde dort nicht eingeliefert. Über Hölderlin sagte Sinclair: »Seine Krankheit ist nur eine angenommene Geistesart.«

ZEIT: Aber die Geisteskrankheit ist unbestreitbar, oder?

Holliger: Einmal ganz banal gesagt: Ein normaler Mensch komponiert nicht - oder er komponiert wie Carl Czerny oder Muzio Clementi. Es braucht eine gewisse Offenheit und Unangepasstheit des Geistes, sonst kann Schöpfertum gar nicht entstehen. Bei den sogenannten Wahnsinnigen ist diese Offenheit durch die Zurichtungen des Lebens weniger zugemauert, sie haben direkteren Zugang zu ihrem Unterbewussten.

ZEIT: Sie erkennen im Wahnsinn also vor allem das kreative Potenzial?

Holliger: Ich bin Arztsohn, vielleicht sehe ich das deshalb ein bisschen anders. Für mich ist das Anderssein etwas, das zum Leben gehört. Ich suche nicht nach dem Krankhaften in einem Menschen. Ich suche nach Menschen, die keine Grenzen in ihrer Fantasie haben, die hinübergehen können, ob das in die Welt des Wahnsinns ist oder in ein Jenseits, beides ist miteinander verwandt. Solche Leute haben einfach feinere Antennen als andere. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn uns Beethoven auf der Straße begegnete, ob wir ihn als normalen Menschen wahrnehmen würden. Das war ein höchst seltsamer Kauz. Oder Mozart, der über die Tische sprang und Witze riss und verrücktes Zeug machte. Würden wir ihn für normal halten?Ich hoffe nicht. Oder Brahms mit seinem Bart: Da kann man die Obsession des Spurenverwischens studieren. Er will eine geordnete Person darstellen. Aber alles, was hinter diesem Äußeren liegt, ist das, was ihn als Komponisten bedeutend macht. Schumanns emotionales Leben kommt mir wie ein großes Accelerando vor, immer schneller und noch schneller. Das musste irgendwann zum Bruch führen und im Schweigen enden - im Enden-Ich.

ZEIT: Führen sie manchmal private Zwiegespräche mit Schumann?

Holliger: Nein, das nicht. Ich fühle mich ihm unendlich nahe. Oft ist er präsent, wenn ich etwas überlege. Aber ich überlege nicht, wie er jetzt entschieden hätte oder so etwas. Ob ich als Person mit ihm gut klargekommen wäre, weiß ich nicht. Denken Sie zum Beispiel daran, wie wichtig es ihm war, mit Hebbel zusammenzukommen - und als Hebbel einmal bei ihm war, hat er einfach kein einziges Wort gesprochen. Es war gewiss sehr schwierig, mit ihm in Kontakt zu treten.

ZEIT: Seine äußere Erscheinung war wenig ansprechend. Er soll leise und nuschelig gesprochen haben, hatte ein aufgedunsenes Gesicht, war kurzsichtig.

Holliger: Als Person ist er für mich nicht so nahe. Er ist mehr ein geistiger Punkt in meinem Leben. »Ein singender Punkt am Himmel oder eine jauchzende Weltkugel« wie Lenau in seinem Notizbuch aus Winnenthal schreibt

ZEIT: Lassen Sie uns über die Klischeebilder reden, die von Schumann in der Welt sind. Robert und Clara gelten als der Inbegriff des romantischen Künstlertraumpaares. Waren sie das?

Holliger: Es ist eine Illusion, dass zwei so starke Persönlichkeiten völlig miteinander verschmelzen können. Wenn man sieht, was Clara komponiert hat, etwa ihre Romanzen für Geige oder das Trio: Das ist ziemlich bedeutende Musik und von großer Eigenständigkeit. Sie hat eben nicht nur die Musik ihre Mannes imitiert, sondern ganz eigene Gedanken entwickelt. Interessant ist auch, dass sie nach Schumanns Tod vierzig Jahre lang nichts mehr geschrieben hat. Vielleicht brauchte sie doch diese Reibung, diesen sie behindernden Widerstand in der eigenen Entfaltung. Als sie das nicht mehr hatte, konnte sie schöpferisch nicht mehr tätig sein. Clara hatte ein schweres Los. Sie war die vielleicht bedeutendste Pianistin ihrer Zeit und hatte jedes Jahr ein Kind. Sie durfte nicht üben, wenn er komponierte. Da gab es früh schon sehr große Spannungen zwischen den beiden.

ZEIT: War Schumann der Frauenunterdrücker, der Clara an den Herd zwang und so eine große Begabung ruinierte?

Holliger: Ich gebe Ihnen ein Beispiel für die Doppeldeutigkeiten in seinem Wesen. Er war zunächst mit Ernestine von Fricken verlobt. Als er hörte, dass sie nicht erbberechtigt war, löste er die Verlobung. Aber gleichzeitig zitiert er in seiner Manfred- Musik ein Thema, dass in einem Flötenkonzert seines Schwiegervaters in spe vorkommt, die Textstelle lautet: »Die Lügen werden wie Gift durch deine Adern fließen«. Man vernimmt da Schumanns schlechtes Gewissen. Insgesamt finde ich, dass die Geschichte mit Clara sehr hochgespielt wurde. In den Buchläden gibt es Regale voller Bücher über Clara - und über Robert vielleicht zwei, und von denen ist eines noch schlecht. Man kann nur deshalb so viel über Schumann und sein Umfeld spekulieren, weil es so unendlich viel Material gibt; die Haushaltsbücher, die Tagebücher, die Briefe. Andere Komponisten sind in dieser Hinsicht stumm wie die Fische. Was weiß man etwa über das Leben von Ravel?Er ist eine geheimnisvolle Figur, die sich immer versteckt hat. Ich finde, man soll das Leben von Schumann kennen. Aber man soll vor allem seine Musik hören!Nicht mehr als 20 Prozent seines Schaffens sind im Konzertleben präsent. Den Rest kennen die meisten doch gar nicht!

ZEIT: Es begegnen einem meist nur die Klavierwerke im Konzert.

Holliger: Eben. Leider werden auch seine Lieder viel zu wenig gehört und wenn, dann immer nur die selben. Es gibt einen Band über Schumann und die Dichter. Das Thema sagt so viel aus. Wenn man sieht, wie Schumann sich Listen von Gedichten anlegt, die zu einer Vertonung geeignet wären, und dann langsam aussucht. In einigen Biografien ist zu lesen, dass er, kurz bevor er nach Endenich kam, immer nur in die Stadtbibliothek gegangen sei und Texte für seinen Dichtergarten gesucht habe. Jetzt ist dieser Dichtergarten neu veröffentlicht worden. Man stellt fest: Das ist ein Wunder von einem Buch!Mit Texten von den Griechen und Lateinern bis in Schumanns Zeit und alles mit einer unglaublichen Konsequenz ausgewählt!Schumann nennt es einen Garten, aber der ist wunderschön angelegt.

ZEIT: Woran liegt es, dass von Schumanns Oeuvre so viel ausgeblendet wird?

Holliger: Es gibt leider viele außermusikalische Gründe dafür. Erstens ging Schumann nach Endenich und hatte damit ein Kainsmal auf der Stirn. Die Biografik und die musikalischen Analysen zielten nur darauf, zu untersuchen, ob er hier oder dort schon krank war oder ob er dieses oder jenes Stück noch zu seiner guten Zeit geschrieben hat. Das wurde von einer Biografie auf die nächste übertragen. Dann hat die neudeutsche Schule um Richard Wagner und Liszt mit ihrem Revolutionsethos daran viel Schuld. Sie haben Schumann anhand seiner späten Stücke, die viel konstruierter und von der Form bestimmt sind, als Hinterwäldler und Traditionalisten dargestellt. Das waren große Polemiken, die ihm sehr geschadet haben. Hinzu kommt, dass Clara und Joseph Joachim nach Schumanns Tod eine Art Hagiografie schreiben wollten. Alle Briefe wurden zensiert. Alles, was nicht ganz in das Konzept des heilen Schumann passte, wurde entsorgt. Das ging so weit, dass Clara am Ende ihres Lebens auf Anraten von Brahms die fünf Celloromanzen verbrannt hat. Ein Zerstörungsakt, den ich in meinen Romancendres zum kompositorischen Thema gemacht habe. Eigentlich war es erst Alban Berg, der mit der Analyse der Träumerei darauf hingewiesen hat, dass Schumann nicht nur ein delirierender Komponist ist, sondern ein großer Kontrapunktiker und sehr formbewusst.

ZEIT: Von alldem hat sich Schumann bis heute nicht erholt?

Holliger: Die Vorurteile, er könne nicht orchestrieren, seine Musik sei schwerfällig und nicht brillant, gibt es immer noch. Auch das spätromantische Klanggewand, das man seiner symphonischen Musik umgehängt hat, mit Riesenorchestern und viel zu großen Streicherbesetzungen, hat ihm geschadet. Ein Musiker muss gerade bei Schumann die Stücke sehr genau kennen und sich wie in einem Streichquartett vollkommen mit ihnen identifizieren. Dann fängt die Musik an zu klingen. Mit den alten Instrumenten aus der historischen Aufführungspraxis wird das jetzt immer mehr gemacht. Dass man im Interpretatorischen wegkommt von dieser vollfetten Küche, ist das Beste, was Schumann überhaupt passieren kann.

ZEIT: Was entgegnen sie den Schumann-Kennern, die der Meinung sind, er sei nun einmal Syphilitiker gewesen und die Gehirnerweichung habe auch Auswirkungen auf die Musik der letzten Lebensjahre gehabt?Sie sei einfältiger und harmonisch simpler geworden.

Holliger: Ich beschäftige mich sehr mit den späten Schumann-Stücken und kann das überhaupt nicht nachvollziehen. In den Spätwerken ist keine Spur von monotoner Rhythmik oder einfacher Harmonik. Nehmen sie doch nur das Violinkonzert. Da wird Schumann im ersten Satz vorgeworfen, er sei harmonisch eintönig. Aber wenn man richtig hinschaut, sieht man, dass das alles steinquaderartig geschichtet ist wie in einer späten Bruckner-Symphonie. Das funktioniert nur in dieser archaischen Form von Motivik und Harmonik. Im wunderbaren zweiten Thema scheint sich die Musik selbst zu vergessen. Es wird immer und immer wiederholt und leiser, als würden in einem Enzephalogramm die Gehirnströme schwächer. Bis es wieder zurückfindet. Das finde ich hochmodern!Oder der dritte Satz, eine Polacca , die mit bleiernen Füßen tanzt. Man könnte sagen: Sie versucht zu fliegen, obwohl die Flügel abgeschnitten sind. Oder der Schluss: Man wirft dem Violinkonzert ja immer vor, es sei nicht brillant genug für die Geige, aber da kommen immer schnellere Skalen, auf und ab, wie eine Art Rad, das sich immer schneller dreht, bis die Naben stillzustehen scheinen. Das ist auch eine der Ideen, die mich für mein eigenes Komponieren sehr beschäftigen. Ich kenne keinen Komponisten, der so etwas zu jener Zeit gemacht hat.

ZEIT: Wie groß ist der Einfluss, den Schumann auf Ihr eigenes Komponieren ausübt?

Holliger: Ich wüsste eigentlich kein Werk, in dem er nicht präsent wäre. Schon in meinem ersten gedruckten Werk, der Kantate Erde und Himmel, kommt er vor. Genau in der Mitte eines symmetrischen Formverlaufs kommt das Motiv aus dem Lied Zwielicht von Schumann. (Holliger singt) »Was soll dieses Grauen bedeuten?«Und bei mir heißt der Text zu dem Motiv: »Oh, wenn ich wieder wäre«.

ZEIT: Was bedeutet Ihnen das Schumann-Jubiläum?

Holliger: Ich habe zu meinem Freund, dem Pianisten András Schiff, gesagt: Es ist nicht an uns, jetzt besonders viel Schumann zu spielen. Wir haben ständig Schumann-Jubiläum. Jetzt sollen all die Leute etwas tun, die sich sonst nicht um ihn kümmern. Vielleicht fällt dann auch bei ihnen der Groschen.

Das Gespräch führte Claus Spahn

Heinz Holliger

Der Schweizer ist Oboist, Dirigent und einer der wichtigsten Komponisten seiner Generation. Holliger (71) setzt sich in seinen Werken immer wieder mit Künstler-Außenseitern von Hölderlin bis Robert  Walser auseinander. Für Robert Schumann hegt er eine große Leidenschaft

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