Wie brennt meine alte Wunde!

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05.2007, Nr. 115, S. 39
Schallplatten und Phono

Martialisches Tremolo, donnernde Affirmation: Richard Wagners Weg ins eigene Innere führte auch über das Klavierlied

Eine Frühvollendung des "Zukunftsmusikers" Richard Wagner, der im Gegensatz zum "Wunderkind" Mozart stets auf das Image des Neuerers bedacht war, lässt sich wohl kaum konstatieren. Insofern entspricht sein OEuvre exemplarisch der These Adornos, wonach sich der wahre Rang eines Künstlers erst im Spätwerk manifestiere. Wagners Leben wie Werk zeugen schier überdeutlich von vielfach übergreifender Dramaturgie, die nichts dem Zufall überlassen will, nicht einmal die postume Rezeptionsgeschichte.

Zum Typus des ästhetischen Demiurgen, gar Usurpators gehört zweierlei - das gezielte Offenlassen der letztwilligen Bestimmung wie die Verdrängung der bescheidenen, noch vorgenialen Anfänge. So gibt es erstaunlicherweise kein offizielles "Testament", in dem Wagner verbindlich Struktur und ästhetische Ausrichtung der Bayreuther Festspiele festgeschrieben hätte. Dass einzig die von ihm sanktionierten Hauptwerke von "Holländer" bis "Parsifal" zu spielen seien, beruht auf Cosimas Dekret. Insofern ist der Repertoirekanon für den Grünen Hügel alles andere als ewiges Gesetz und der Disput über eine etwaige programmatische Öffnung oder gar Erweiterung der Festspiele bis in die Moderne, von Meyerbeer bis Stockhausen, durchaus legitim. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, ob ein Wagner-Festival nicht auch seine Frühwerke präsentieren müsste.

Bezeichnenderweise ließ Wagner selbst immerhin auch spät noch seine "Faust"-Ouvertüre und besonders die C-Dur-Sinfonie gelten - offenkundig sah er von Anfang an das Orchester als "sein" Instrument an. Bei den nicht eben zahlreichen Klavierwerken und -liedern war er weit weniger gnädig, er legte auf sie fast demonstrativ keinen Wert. Dafür gibt es viele Gründe. Zunächst wollte er nicht in die Öffentlichkeit gebracht wissen, was seinen eigentlichen ästhetischen Intentionen und Maßstäben keineswegs entsprach - dazu zählten nun einmal Klavier- und Gesangs-Piècen. Dazu kam, dass Wagner kein Pianist war, es weder in der instrumentalen Phantasie noch gar virtuosen Fertigkeit mit Felix Mendelssohn Bartholdy oder seinem Schwiegervater Franz Liszt aufnehmen konnte. Gravierender indes ist die tiefsitzende Abneigung des charismatischen Umstürzlers, seine vorrevolutionären, "unfertigen", akademisch-(markt)konformen Versuche, Lehrlingsarbeiten auch nur weiterhin wahrhaben zu wollen. Die ersten drei Opern Wagners, "Die Feen", "Das Liebesverbot", erst recht "Rienzi", sind ja mitnichten völlig belanglos, stehen aber noch allzu deutlich im Bann der Tradition. Ganz emanzipiert von dieser hat sich nicht einmal Wagner; doch der "Holländer" markiert eklatant den radikalen Schnitt zwischen Autonomie und Konvention.

Umso wichtiger ist es, Wagners spätere Selbstzensur auf ihre Triftigkeit hin zu überprüfen. Anlass hierzu bietet diese Gesamtaufnahme der Klavierlieder. Die Spieldauer von knapp neunundsechzig Minuten verrät einiges von deren zumindest quantitativer Marginalität: nur zwanzig Lieder sind überliefert. Beschäftigt man sich neuerlich mit ihnen, kommt man abermals nicht umhin, eine deutliche Zäsur zu machen: Die "Fünf Gedichte von Mathilde Wesendonck" stehen als chef d'oeuvre, alles andere überragend, für sich.

Zwischen ihnen und den ersten Leipziger Arbeiten liegt ein Vierteljahrhundert - zeitlich wie qualitativ eine kleine Ewigkeit. 1832 veröffentlichte der Neunzehnjährige "Sieben Kompositionen zu Goethes Faust", bestehend aus zwei chorischen Genrestücke ("Lied der Soldaten", "Der Bauer unter der Linde") und fünf Solonummern, knapp und prägnant gehalten, ohne Anzeichen auffälligerer Originalität; auf Branders Lied und die beiden Mephisto-Stücke "Gretchen am Spinnrad" und "Ach neige, du Schmerzenreiche" folgt ein Melodram - dieser Schluss steht bei Wagner einzigartig da. Ausgerechnet der spätere Verfechter des Gesamtkunstwerks hat mit dieser Gattung die Gegenposition zum Integralen gewählt. Das g-Moll-Melodram lässt über leisen Klavier-Tremoli den Text deklamieren, suggestiv in der unverbundenen Parallelisierung von Poesie und Musik. Soll man Versrhythmus und Taktschwerpunkte synchronisieren? Im Interesse der Einheitlichkeit spräche manches dafür; gleichwohl separiert Elisabeth Verhoeven plausibel die Ebenen zugunsten freischwebender Sprachentfaltung.

Abgesehen von der entschieden eindringlichen Komposition "Der Tannenbaum" mit seiner düster gleichförmigen Moll-Begleitung - entstanden 1838, kurz vor der Flucht aus Riga -, komponierte Wagner dann erst wieder Lieder in Paris, 1839/40. Sie werfen ein Licht auf seine damalige Anpassungsbereitschaft, ja, sein Anbiedern an die Opernprominenz, insbesondere an den später so vehement beschimpften Giacomo Meyerbeer. So könnte die große Bravour-Szene "Adieux de Marie Stuart" mit ihren Koloraturen auch in den "Hugenotten" stehen. Und auch "Tout n'est qu'images fugitives" hat einen fast ekstatischen Impetus.

Ein Lied ist ein Kuriosum: Heinrich Heines berühmte Ballade "Die beiden Grenadiere" hat Wagner tatsächlich en français vertont als "Les deux grenadiers", in der Übersetzung von François Adolphe Loeve-Veimar: effektvoll, mit vielen Tremoli, vor allem aber mit einer martialisch schmetternden Fortissimo-Apotheose nach dem obligaten Marseillaise-Zitat. Der Unterschied zu Robert Schumanns zwei Jahre später erschienener Vertonung des Gedichts ist eklatant. Statt donnernder Affirmation lässt Schumann die pathetische Elevation als wahnhafte Halluzination erscheinen, ins depressive Nichts verdämmernd. Überdeutlich wird in diesem Vergleich, dass Schattierungen, Zwischentöne, abrupte Stimmungsumschwünge die Sache Wagners nicht sind: Er ist kein Lyriker, bedarf der gewaltigen Formate wie Besetzungen. Dass er, zurückgekehrt aus Paris, die Liedkomposition, die ihm nicht die erhoffte Anerkennung brachte, einstellte, ist einleuchtend.

Ein einziges Mal allerdings hat er seine spätere Devise "Kinder! macht Neues!" dann doch auch als Liedkomponist eingelöst: in den "Wesendonck-Liedern". Sie bleiben ein packendes Beispiel dafür, wie gerade der Nichtpianist einen ganz originären, völlig seiner poetisch-musikalischen Konzeption gemäßen Klaviersatz schreibt - selbst die "Tristan"-Antizipationen bestehen autonom gegenüber dem ausladenden Musikdrama. Natürlich wäre es ungerecht, täte man Wagners Lieder in Kenntnis der Hauptwerke einfach als irrelevant ab. Zu stark spürt man in Details schon manches Kommende.

Insofern dokumentiert diese verdiente Gesamteinspielung höchst informativ den langwierigen Weg Wagners ins eigene Innere. Der Bariton Jochen Kupfer überzeugt mit warmem, weichem Klang und auch gestischem Differenzierungsvermögen, während die Mezzospranistin Gundula Schneider kultiviert, aber eher eindimensional singt, bei den Wesendonck-Liedern nicht eben imaginativ. Allerdings spielt sich auch die Pianistin Felicitas Strack recht brav durch die Parts: Etwas mehr harmonisches Relief und klangliche Expansion kann man sich schon vorstellen.

GERHARD R. KOCH

Richard Wagner. Sämtliche Lieder. Gundula Schneider, Jochen Kupfer, Felicitas Strack, Elisabeth Verhoeven. Württembergischer Kammerchor, Dieter Kurz. Bayer Records 100 349 (Note 1)

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