Ein Gedenkblatt zum hundertjährigen Geburtstag der Meisterin

Clara Schumann
(13. Sept. 1919)

Wer je des Vorzugs genoß, des Glückes teilhaftig wurde, zu Clara Schumann in Beziehung zu treten, wer hätte nicht den Zauber empfunden, der ihre Persönlichkeit umgab, wer sich dem Zauber entziehen können, den ihr Wesen ausstrahlte?

Was war es um diese Frau? Waren es die schlichte Vornehmheit ihrer äußeren Erscheinung, das ergraute, mit kleinem Häubchen geschmückte Haar, die seelenvollen, ruhig=ernsten und nachdenklich fragenden Augen, die leise, etwas lispelnde Sprache, der gütige, warme Druck der wohlgeformten Hand? Waren es die Zurückhaltung und Gelassenheit, die Weichheit und Milde ihres stillen Wesens, oder die durch ein ebenso reiches wie schweres Leben gewonnene Abgeklärtheit, die sich in Bewegung, Wort und Gebärde allüberall und stets aussprach? Dämpfte nicht diese Gelassenheit und Zurückhaltung jedwede Raschheit, jeden unnatürlichen Überschwang, jede Keckheit der ihr gegenübertretenden Jugend? Zog nicht dann und wann der leise Schatten verborgener, wohlgehüteter Trauer über das edle Gesicht wie eine Mahnung, daß in dies Heiligtum niemand Eintritt habe?

In voller Lebendigkeit steht die seltene Frau vor dem Auge des Verfassers, wie er sie vor 48 Jahren zum ersten Male schaute. So klar das Bild auch ist, es gelingt doch nur mühsam,
die feinen Züge desselben in Treue nachzuzeichnen, Wort und Feder scheinen dafür zu plump und ungefüge. Die ungeschminkte Erzählung aus vielen goldenen, unvergeßlichen Tagen und Stunden will versuchen, Persönlichkeit und Wesen der Hohenpriesterin Clara Schumann insbesondere der musikbeflissenen, von zukünftigem Künstlerruhm träumenden Jugend nahe zu bringen. Dieser Jugend fehlen ja gar so oft die Vorbilder künstlerischer Persönlichkeiten,
an denen sie erstarken kann.

Mit Beginn des Unterrichts bei Friedrich und Alwin Wieck trat der „kleine Müller“,
wie der Knabe mit Vorliebe genannt wurde, in eine bis dahin ungekannte Umgebung. Die Namen Robert und Clara Schumann tönten ihn von der ersten Stunde an in tausendfältigen Veränderungen entgegen. Der Bruder Claras, Alwin, blickte zur großen Schwester schwärmerisch und mit äußerster Hingabe auf. Für ihn gab es schlechterdings nur einen großen Klavierkünstler, der hieß Clara Schumann. Der Vater Friedrich sah in der Künstlerin recht eigentlich nur die Frucht seiner Erziehung. Mit Robert hatte er sich unter dem Zwange der Verhältnisse abfinden müssen; daß er innerlich mit dem berühmten Schwiegersohne nicht durchaus übereinstimmte, bewiesen gelegentliche Urteile, die sich später dem gereiften Schüler als bedenklich schief erweisen mußten. Den übermächtigen Einfluß des Schöpfergeistes Schumann, der die Gattin zur Hohenpriesterin erhoben hatte, mochte Friedrich Wieck nicht gern zugestehen. Es gab oftmals Augenblicke, in denen Clara bei Wiecks höher stand als Robert. Mag das für den Fernstehenden unbegreiflich oder doch schwer verständlich scheinen, den mit der Familie Wieck und ihrem Gesichtskreis Vertrauten konnte es nicht überraschen.

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kam Clara öfters nach Dresden, besuchender und konzertierender Weise. Trotzdem sie nicht bei Wiecks sondern bei dem Direktor der kgl. Gemäldegalerie, Hübner, wohnte, waren die Tage ihres Aufenthalts Feste für die Familie.
Im nicht mehr bestehenden, baukünstlerisch vornehmen, durch Klangschönheit ausgezeichneten Saale des Hotel de Saxe fanden die Künstler= und Kammermusikkonzerte statt. Dort war der Schauplatz der ersten großen künstlerischen Ereignisse, die dem jungen Zögling eine neue Welt erschlossen. Unvergeßlich haften im Gedächtnis die Eindrücke von Clara Schumanns Entschleierungen der Schubertschen A-moll=Sonate op. 45, an derem Borne so Schumann wie Brahms (siehe den F-dur=Mittelsatz in Nr. 6 der Liebeswalzer) mit Inbrunst gesogen hatten. Des Gatten Geist drang aus lang vergangenen Jugendjahren herüber aus seinen Kreisleriana, die gar niemand unter allen Klavierkünstlern Clara je nachzuspielen vermocht hat. Des großen Freundes Brahms 1869 erschienene zwei ersten Hefte der Ungarischen Tänze, deren erste Bekanntschaft den Dresdnern durch Clara mit Frl. Julie von Asten vermittelt wurde, in welche Gefilde trugen sie den gierig lauschenden kleinen Zuhörer! Noch heute tönen im Ohre des mittlerweile Ergrauten mit der Macht unmittelbarer Wirklichkeit die Perlen der G-moll=Akkordläufe im ersten der Ungarischen Tänze. Auf der Spielbühne im Saale des Hotel de Saxe, unmittelbar am vorhangverschlossenen Eingang zum Künstlerzimmer, saß die hohe, hagere würdige Greisengestalt Friedrich Wiecks, jede Miene sprach stolzerfüllt aus:
„Seht, das ist meine Tochter, hört, das sind die Früchte meiner musikalischen Erziehung!“

Dem kleinen Müller war Clara Schumann ein höheres, unnahbares Wesen geworden,
der geplanten Vorstellung, dem ersten Vorspiel sah er klopfenden Herzens entgegen.
Der kaum zwölfjährige, in engsten Verhältnissen aufgewachsene Knabe, der noch mit keinem Großen von Geburt oder Geist zusammengekommen war, in dessen bescheidenes Leben erst seit kurzer Zeit das Wort Künstler hineingetönt, der unfaßliche Begriff Künstlertum getreten war, der kleine Knirps erschrak heftig, als ihm der Lehrer das bevorstehende Vorspiel ankündigte. Der strenge Vater tat ein übriges, um die Bangigkeit beinahe bis zur Verschüchterung zu schärfen.

Der große Augenblick kam, aber wider Erwarten ging alles ganz natürlich zu.
Die mit bewegtem Schritte hereintretende, etwas ergraute, stattliche Dame im schwarzen Kleid mit schwarzem Umhange war ja ein leibhaftiger Mensch, benahm sich und sprach wie andere Sterbliche auch, beinahe so wie die eigene Mutter. Sie sprach leise, etwas zögernd und lispelnd, das fiel dem Kinde als ein Fremdes auf und es hatte bald entschieden, daß sie doch wohl etwas Besonderes, Höheres sein mußte. prüfend ruhte ihr schönes, warmes Auge überaus lange in dem des zaghaften Opfers, gleichsam als wollte sie sein ganzes Innere ergründen. Dann strich sie langsam über Kopf und Stirn des halb abwesenden Knaben mit den Worten: „Nun, kleiner Theodor, spiele mir etwas vor.“

Die doch nur von recht gereiften Kindern voll zu bewältigenden Kinderszenen Schumanns waren sorgsamst vorbereitet. Die Tonsprache des Meisters war dem Prüfling freilich noch nicht recht vertraut. „Fast zu ernst“ und „Der Dichter spricht“ gingen unbedingt über sein Fassungsvermögen. Mit den meisten der anderen Stücke hatte er sich abgefunden, „Ritter vom Steckenpferd“ wurde, besonderes im crescendo und forte des zweiten Teiles, von dem Jungen mit wahrem Vergnügen getrommelt; „kuriose Geschichte“, Haschemann“, Wichtige Begebenheit“ usw. paßten in den Anschauungskreis des Kindes. Als sich die Meisterin zum Kleinen an den Flügel setzte, schwand die Befangenheit; keine Bewegung, keine Miene,
kein Blick, den sie mit dem Bruder wechselte, entgingen ihm. „Von fremden Ländern und Menschen“ wurde ohne Unterbrechung angehört, dann eröffnete Clara Schumann dem Spieler Blicke in ganz unbekanntes Land. Ihre Ausstellungen und Vortragswinke hatten mehr als vorübergehende oder nur rein persönliche Bedeutung, sie erschlossen künstlerische Grundsätze.

Die Ausführung des punktierten Rhythmus in der Melodie des zweiten, vierten usw. Taktes entsprach ihr durchaus nicht. Die in beide Hände verteilte Begleitungsfigur besteht aus zwei Achteltriolen, sie ist also eine Dreiteilung der Viertel, die punktierte Melodiestelle ist hingegen eine Vierteilung. Mit dem Verstand ist das leichter zu begreifen als mit elfjährigen Fingern zu spielen. Millionen von Klavierbeflissenen spielten, spielen und werden spielen:

Welch ein feiner rhythmischer Unterschied besteht zwischen dieser Ausführung und der Schumannschen Vorschrift:

Um die vieles sinniger ist der ruhige, weilende Schumannsche Melodienrhythmus gegen den eckigen Allerweltsschnörkel bei Nr. 1. Clara Schumann ruhte nicht, bis die Stelle wenigstens annähernd nach ihrem Wunsche gelang. Der Grundsatz der höchsten Gewissenhaftigkeit, ohne die vollwertige künstlerische Leistungen unmöglich sind, trat zum ersten Male in das Bewusstsein des Spielers. Die unschuldige, an ihn gerichtete Frage: „Glaubst Du denn, daß sich mein Mann nicht die Mühe genommen hätte, Triolen in der Melodie vorzuschreiben, wenn er sie haben wollte?“ wirkte wie ein Überfall. Ein Riesenberg von zukünftigen Schwierigkeiten stieg empor. Wer gibt sich in den deutschen Musikschulen heute mit solchen „Kleinigkeiten ab?)

Die Klaviermusik birgt viele derartige Aufgaben. Wer den punktierten Rhythmus in der ersten der Kinderszenen nicht bemeistern gelernt hat, der wird z. B. auch die 32. Cramersche Etüde (Ausgabe Bülow) oder die As-Dur=Variation im zweiten Satze der oben genannten Schubertschen A-Moll=Sonate (op. 45) nicht sinngemäß im Geiste der Komponisten bewältigen.

Die zweite Ausstellung bezog sich auf die ersten vier Takte des zweiten Teils. Im Basse erscheint dort eine veränderte Nachahmung der besprochenen Melodietakte. Dabei hielt sich der Spieler wie tausend andere nicht auf. „Sprechen müssen diese Bässe, lieber Theodor, sie sind eigentlich die Hauptsache.“ Das war wieder etwas ganz neues, denn vorgeschrieben stand ein sprechendes Hervorheben der Bässe nicht. Also gab es in der Musik ein Etwas, das, im Notentexte nicht vorgeschrieben, zur Geltung gebracht werden will und muß. Ein zweiter Grundsatz für das zukünftige künstlerische Bemühen: Aussuchung, Erkennung und bewußte Darstellung verborgenen musikalischen Inhaltes. Himmelweit davon entfernt ist das von der in neuerer Zeit so vielfach beliebten Auffassungssucht, die nicht sachlich sucht und ausdeutet, sondern höchst persönlich Fremdes hineindeutet. Ein Seitenstück zu den sprechenden Bässen wird weiter unten auszuführen sein.

Die dritte Handreichung auf dem ersten Wege in Schumannsches Traumland bot Clara dem verschleierten Blickes Tastenden bei der Überleitung im fünften und sechsten Takte des zweiten Teiles. Es ist die heikelste Stelle des kleinen, duftigen Tongebildes. Frau Schumann kleidete ihre Berichtigung in die Worte: „Ohne jede Ruckung, ganz wenig langsamer werden, keine Fermate, ruhig in den Anfang hinübergleiten.“ Dann folgte die wichtige Belehrung: „Bei meinem Manne sind die Ritardandos niemals lang auszudehnen.

Das war auch Neuland, ein Ausblick auf zunächst noch nicht klar erkennbare Gebiete musikalischer Vortragskunst, ein Hinweis auf Besonderheiten in der Ausdeutung Schumannscher Vorschriften. Es war noch mehr: eine Warnung vor, eine Vorbeugungsmaßregel gegen alle Übertreibung, wie es längerer Verkehr mit Clara in späteren Jahren mehr und mehr erweisen sollte.

An dem kurzen zweiundzwanzigaktigen Klavierstück hatte die Meisterin drei der wichtigsten künstlerischen Grundsätze gelehrt: Peinlichste Gewissenhaftigkeit, erschöpfende Ausdeutung des musikalischen Inhalts, Vermeidung jeder Übertreibung. Wahrlich ein hoher Gewinn, der dem Jünger spielend zufiel, der ihn in seinem Künstlerwallen als ein vor vielen Abwegen dauernd bewahrendes Schutzmittel begleitete. Dann und wann auch eine Bürde, da man doch nur unter Kämpfen gegen die an allen Ecken und in allen Winkeln lauernde Halbheit solche Grundsätze durchsetzt. Die strenge Reinheit, mit der Auserwählte wie Clara Schumann, Amalie und Josef Joachim, Julius Stockhausen, Johannes Brahms ihrer Kunst huldigten, ist beinahe verloren gegangen. Die Nennung dieses zusammengehörigen Künstlerkreises ist keine einseitige Parteinahme oder etwa Verkennung anderer großen Künstler einer vergangenen großen Zeit. Der von heiligem Kunsternst erfüllte Hans von Bülow darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, er steht ganz ebenbürtig an der Seite der Genannten.

Zum Vorspiel der Kinderszenen zurückkehrend, sei aus dem Schatze der Erinnerungen mitgeteilt, daß mit derselben Gewissenhaftigkeit wie Nr. 1 auch die anderen Stücke durchgearbeitet wurden. Kein noch so kleines Pünktchen, unbedeutend scheinendes Zeichen durfte übersehen, noch zu leicht genommen werden. „Meinst du denn, daß sich mein Mann an einem schönen Sonntag Nachmittag an den Schreibtisch gesetzt hätte, um etwa aus Langeweile diese kleinen Zeichen in und über die Noten zu machen?“ Alle diese Fragen und Bemerkungen stimmten, so gütig sie auch ausgesprochen wurden, doch sehr nachdenklich. Als die so nachdrücklich redende, heikle Kadenz in „Der Dichter spricht“ gar nicht nach Wunsch gelingen wollte, übermannten Verzagtheit und Tränen den kleinen Spieler; der vertrauliche Zuspruch Claras trocknete sie bald.

Diese erste Stunde bei Clara Schumann bildete die Einleitung zu den Beziehungen persönlicher und musikalischer Art, die den Erzähler jahrelang mit ihr verbanden. Kam sie nach Dresden, so überzeugte sie sich von den Fortschritten, tadelte, lobte, mahnte ab, spornte an und hielt so ihre leitende und schützende Hand über den heranreifenden Kunstjünger.


Intermezzo I.

Die Gedächtnisfeier für Robert Schumann in Bonn 1873.
Am 17., 18. und 19. August 1873 fand in Bonn ein Musikfest „Gedächtnisfeier für Robert Schumann“ statt, mit der Bestimmung, den Grundstock für ein dem Meister auf dem Friedhofe zu errichtendes Denkmal zu beschaffen. Eine beredte Sprache sprechen die stummen Zeugen: das vom Verfasser sorgsam aufbewahrte, vor ihm liegende Programmbuch und die Photographie des alten, ursprünglichen Grabsteins (s. nebenstehendes Bild) mit den noch grünen Zweiglein, am 17. August 1873 vom Grabe gepflückt.)

Der erste Grabstein auf Robert Schumanns Ruhestätte

Der erste Grabstein auf Robert Schumanns Ruhestätte ist gänzlich unbekannt, in der gesamten Schumannliteratur nicht zu finden. Ihn hier nach einer Photographie des Jahres 1873 im Bilde festzuhalten, erachtete der Verfasser als eine wertvolle Ergänzung des Gedenkblattes.

Alwin Wieck hatte den Entschluß gefaßt, nach Bonn zu wallfahrten und wünschte, seinen Schüler mitzunehmen. Der Wunsch des Lehrers fand bei dem Schüler den denkbar günstigsten Boden, ein brennend Verlangen loderte heiß empor, „nach Bonn zum Musikfest“ lautete die Losung. Schwierig wurde die Ausführung des Planes, denn die Eltern waren nicht in der Lage, einen noch so bescheidenen Teil der Kosten zu bestreiten. Mildtätige Seelen sprach man an unter Hinweis auf erzieherischer Wirkung und künstlerischen Ansporn des Festes. Die Gaben flossen kärglich, da die Dresdner Spießbürger hinter dem Musikfeste wohl nur den Vorwand für eine fröhliche Rheinreise witterten und die Taschen zuhielten. Etliche Tage vor dem Feste reiste Alwin Wieck allein ab. Der gedrückt und traurig Zurückbleibende machte noch eine letzte Kraftanstrengung und siehe da, sie gelang: im letzten Augenblick war das Reisegeld zusammengebracht. Zu einem einzigen, ersten, großen Lebensereignis wurde diese Musikfestfahrt, die äußerlich ein über 25 Jahre sichtbares Zeichen auf der linken Backe zurückließ. Es rührte von den Böllerschüssen her, die am Loreleyfelsen abgefeuert wurden. Der unkundige Neugierige hatte sich ahnungslos in die Nähe des friedlichen Geschützes begeben, dort aufhalten zu müssen geglaubt und wurde von den Pulverkörnchen zwar ungefährlich, aber wie man sieht nachhaltig getroffen.

Im Leben Clara Schumanns nach dem Tode des Gatten bildete das Bonner Fest einen Höhepunkt. Sie selbst war der unbestrittene Mittelpunkt der Gedächtnisfeier, leuchtend im hellsten, aber nicht blendenden Glanze reifster Künstlerschaft, verklärt durch den Widerschein, den die Werke des Verblichenen ausstrahlten.

An welch’ eine auserlesene Festtafel man sich in Bonn setzte beweist das Programmbuch:
Leitung: Joseph Joachim und J. v. Wasielewski.
Solisten: Clara Schumann, Marie Wilt, Amalie Joachim, Marie Sartorius, Franz Diener, Julius Stockhausen, Adolph Schulze, Ernst Rudorff;
Konzertmeister: Ludwig Strauß (London) und Otto von Königslöw.


Programm:
Erstes Konzert: Symphonie Nr. 4, D-moll und „Das Paradies und die Peri“;
Zweites Konzert: Ouvertüre zu Manfred, Klavierkonzert A-moll, Nachtlied für Chor und Orchester, Symphonie No. 2, C-dur, dritte Abteilung der Szenen aus Goethes Faust;
Drittes Konzert: Streichquartett Nr. 3, A-dur (Joachim von Königslöw, Strauß und Lindner aus Hannover), „Stille Tränen“ und „Aufträge“ (Marie Wilt), „Der Spielmann“ und „Wanderlied“ (Franz Diener), „Andante und Variationen“ für 2 Klaviere (Clara Schumann und Ernst Rudorff), „Wehmut“ und „Sonntags am Rhein“ (Amalie Joachim), „Die Löwenbraut“ (Julius Stockhausen), Klavierquintett (Clara Schumann, Joachim, von Königslöw, Strauß und Wilhelm Müller aus Berlin). Die auserlesensten Perlen Schumannscher Musik!

Welch’ ein Zusammenfluß und Zusammenschluß von Künstlern in jenen Tagen mit Johannes Brahms, dem durch allerhand Missverständnisse und Empfindlichkeiten nicht zu Worte gekommenen, an der Spitze. Das alles am lebensprühenden, sonnenübergossenen Rhein, in der Stadt Beethovens. Zum Beschlusse eine Fahrt nach Rolandseck und Gartenfest dortselbst. Wahrhaftig, eine Fülle der Gesichte für den Fünfzehnjährigen, der mit alle den Großen verkehren durfte und unter Clara Schumanns Schutz in Rolandseck an der Künstlertafel geduldet wurde.

Verschwenderischer Segen ergoß sich aus dem apollinischen Füllhorn über den einfältigen, von genußhindernder Tadelsucht noch unberührten Gläubigen. Wie die gesamte Zuhörerschar, so befand sich auch der zum waschechten Schumannianer Emporgestiegene im Taumel, in dem man von dem Quartett aus Paradies und Peri: „Denn in der Trän’ liegt Zaubermacht“ eine zweimalige Wiederholung erzwang. Der Beifall nach dem A-moll=Klavierkonzert wurde zu einer stürmischen Kundgebung, alles war aufgestanden, die gefeierte Spielerin wurde tatsächlich von Blumen überschüttet. Unter den Gesangssolisten ragte besonders Julius Stockhausen in den Faustszenen hervor. Wer von ihm, dem ebenfalls damals in vollster künstlerischer Reife stehenden, gehört hat „Hier ist die Aussicht frei“, „Höchste Herrscherin der Welt“, wird zugeben müssen, daß ihn darin kaum ein anderer erreicht hat. Stürmisch brausten die Beifallswogen noch einmal im dritten, dem Morgenkonzert über Clara Schumann nach den Variationen für 2 Klaviere und dem Klavierquintett. So groß war sie auf diesem Feste, so bescheiden dabei und so untertan dem über ihr waltenden Geiste des Gatten, daß alle anderen Künstler jener Tage neben ihr im Schatten standen. Sie neideten ihr die Sonne nicht.

Das Fest und seine Musik waren verrauscht. Im Gehirn des jungen Schumannianers hämmerte es gewaltig, auch der Morgenkaffee im jetzt leider verschwundenen Kley’schen Garten mit der Aussicht nach dem Siebengebirge bot keine Ablenkung oder Abkühlung. Beklommen stand er am 20. August vormittags mit dem Lehrer im Gasthaus zum Stern, um bei Clara Schumann Dank zu sagen und Abschied zu nehmen. In einem märchenhaften Blumengarten, zu dem die Hotelzimmer umgewandelt waren, saß die glückstrahlende Siegerin. Die Stätte ihres tiefsten Leids, der schwersten Stunden ihres Lebens, da man ihn in Bonn ins Grab gesenkt hatte, sie war die Stätte ihres Ruhmes und Sieges geworden. In der kurzen Unterredung wurde ein im Winter stattzufindendes Vorspiel vereinbart, zu dem der Schüler nach Berlin kommen sollte. Die letzten Worte galten der Rückreise, die plangemäß den an Eindrücken ebenso überreichen wie an Geldmitteln armen Theodor Müller sogleich nach Dresden zurückführen sollte, während Alwin Wieck dasselbe Ziel langsam und vergnüglich rheinaufwärts fahrend zu erreichen gedachte. Der gütigen Frau leuchtete dieser Abschluß nicht ein. Mit den Worten: „Ach nein, das geht doch nicht, Theodor muß doch auch noch etwas vom Rhein sehen“ drückte sie dem Verdutzten einen goldenen Dukaten und ein sächsisches Zweitalerstück rasch in die Hand. Denkt der Schreiber jenes Augenblicks, so will ihm die Hand, die das Geschenk empfing, heute noch wonnesam erschauern. Und „alte liebe Schatten steigen auf“ beim stillen, mit Wehmut getränkten Betrachten des Bildes vom einfachen ersten Grabstein und der vor 46 Jahren ehrfürchtig vom Grabe gepflückten Zweiglein.

Durch die Pforte der Gedächtnisfeier war der Jüngling ganz in den von Robert Schumann errichteten Tonprunkbau eingetreten, in den er bisher nur ahnungsvoll hineingeschaut hatte. Noch war er nicht im Stande, alle Verhältnisse im Innern des seltsamen Bauwerks zu überblicken, alle Bauglieder in ihrer Gesamtheit zu deuten und zu werten. Die Gedächtnisfeier war gewissermaßen, um bildlich zu sprechen, eine Einsegnung. Man war in dem Kreise der Erwachsenen bestätigt. Bis zur Mündigkeitserklärung sollten noch viele Jahre vergehen.

In den Erinnerungen an Clara Schumann durfte das Musikfest in Bonn nicht fehlen, soviel persönliches auch hineinfließt. Einiges andere kann man noch finden in Litzmanns „Clara Schumann“, Bd. III, in Kalbecks Brahmsbiographie, Bd. II² und im Briefwechsel Brahms=Joachim, Bd. IV.

Der Winteranfang 1873 brachte das in Bonn verabredete Vorspiel in Berlin, Zelten 11. Präludium und Fuge Nr. 2 (C-moll) des wohltemperierten Klaviers, der Robert Schumannschen Phantasiestücke op. 12 Heft 1 und Fantaisie=Impromptu von Chopin waren dafür ausgesucht und eifrig geübt worden; man wähnte sich wohlvorbereitet. Peinlichst berührte deshalb nach dem Vortrag des letztgenannten Stückes der mit den dürren Worten „daran ist mir eigentlich kein Ton recht“ ausgesprochene harte Urteilsspruch. Was hatte der Spieler denn verbrochen? Nach seinem Dafürhalten war außerordentlich fleißig und sorgsam geübt worden, das Stück lag völlig im Bereiche der Fingerfertigkeit, des Bewusstseins, falsche Tasten waren kaum gegriffen, wo fehlte es denn?

„Sie lassen ja alle Finger liegen, Sie heben ja keinen einzigen Finger ordentlich auf! Sie müssen jetzt wenigstens ein Vierteljahr weiter nichts als Tonleitern und Etüden spielen. Wenn Sie gelernt haben, Ihre Finger aufheben, können Sie mir wieder vorspielen!“

Da saß der junge, öffentlich schon so oft belobte Klavierspieler betroffen, betreten, tief getroffen. Schlimmer als der vernichtende Tadel war die insgeheim aufkeimende Frage, ob denn der gerügte Fehler ausschließlich dem Spieler zur Last zu legen ist? Das Vertrauen zum Lehrer geriet ins Wanken und das war nicht gut. Der herbe Tadel gab Veranlassung zu einem gründlich durchgreifenden Heilverfahren. Buchstäblich wurde ein Vierteljahr kein Klavierstück angerührt, das tägliche musikalische Brot bestand in Tonleitern, selbst erfundenen Fingerübungen und Czerny’s selbst verschriebener Schule des Virtuosen. Nach drei bitter schweren Monaten war das vorgeschriebene Ziel erreicht. Es blieb kein Finger mehr liegen, wenn es nicht verlangt wurde. Was hat man im Lehrberufe der späteren Jahre nicht für Mühe aufwenden, Kämpfe ausfechten müssen, um die von Clara Schumann so heftig und doch so weise getadelte Nachlässigkeit bei schlecht vorbereiteten Schülern auszurotten! Der Fehler ist nur durch unerbittliche Strenge zu beseitigen, er hat einen guten Freund in der viel verbreiteten leidigen Angewohnheit des Zufrühanschlagens der Bässe in der linken Hand. Hatte die Lehrerin die Härte ihres Urteils, die doch so heilsam war, empfunden, oder war es der Ausfluß ihrer Güte – zu Weihnachten traf eine Notensendung und folgender Brief ein (s. die Nachbildung in der Beilage).


                            Berlin, den 22. Dezember 1873.


Lieber Herr Müller!

Sie erhalten hierbei eine kleine Weihnachtsgabe in dem temp. Klavier von Bach (andere Ausgabe als Sie haben) und Symphonien oder Inventionen. Ich hoffe, Ihnen damit eine kleine Freude zu manchen und Sie zu fleißigem Studium anzuspornen, namentlich zur Gewissenhaftigkeit. Bedeutendes in der Kunst wird nur durch höchste Gewissenhaftigkeit erreicht und für junge begabte Talente ist dies besonders schwer, sie halten leicht für unwichtig, ohne das schließlich doch keine Vollendung möglich ist. Sie müssen sehr auf Ihre Technik Acht haben, und daß Sie nicht aufheben, denn dies fiel mir besonders auf, als ich Sie neulich hörte. Nun, Sie sind ja in guten Händen und ich hoffe bald mich von Ihren Fortschritten wieder zu überzeugen.
Indem ich Sie schönstens grüße und Ihnen in Zukunft das beste wünsche bin ich

                    Ihre aufrichtige
                                Clara Schumann.

Der Brief mit den Noten lag unter dem Weihnachtsbaum bei Alwin Wieck.
Möchten sich unsere jungen Künstler die Sätze von der Gewissenhaftigkeit tiefst einprägen. Dem Verfasser blieb und ist noch heute Clara Schumanns Brief eine ehrwürdige, heilig zu haltende Urkunde.

[Für das Schumannportal im Auftrag des StadtMuseum Bonn von P. Sonntag im Oktober 2008 neu abgeschrieben aus:

Bilder und Klänge des Friedens.
Musikalische Erinnerungen und Aufsätze von Theodor Müller=Reuter
Leipzig 1919, Seite 5-18]