Bericht zu den Zwickauer Musiktagen, 5. bis 20. Juni 2010

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, meine Damen und Herren, verehrte Gäste, lieber Reinhard und lieber Michael!

 

[…]

wenn ich zurückblicke in die Vergangenheit und auf meine eigenen ersten Schritte in der Schumann-Forschung, so muss ich neben den großen Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert – Wilhelm Joseph von Wasielewski, Gustav Jansen, Hermann Erler, Martin Kreisig, Hermann Abert und anderen – einer Gestalt gedenken, die einmal zu Recht als “Nestor und böser Geist“ dieses Zweigs der Musikforschung bezeichnet worden ist und deren Namen ich aus wiederum anderen Gründen ebenfalls nicht erwähnen will. Ich sehe den beleibten und von keinerlei Selbstzweifeln geplagten Herrn noch vor mir auf Martin Schoppes Sofa hier über uns sitzen, und zumindest Michael Struck hat ihn auch noch persönlich erlebt, seinerseits auf dessen Sofa in Göttingen sitzend und, wie ich mich erinnere, von einer Stoffgiraffe (die uns viel Stoff zum Amüsement gab) flankiert. Jener Herr galt, und seine beiden dickleibigen Schumann-Bücher galten lange Zeit als unumstrittene Autorität, gegen die nur schwer anzudenken und anzuschreiben war, und er hat selbst dafür gesorgt, dass jüngere Kollegen nur schwer an Informationen und Material herankamen, ja sich nicht gescheut, sich als Garant und Eckpfeiler allen (Schumann-)Wissens zu präsentieren, um nicht zu sagen: aufzuspielen.

 

Warum erzähle ich das? Weil zwar Martin Schoppe und ich noch in der Vorkriegs- und Kriegszeit geboren worden waren, Reinhard Kapp, Michael Struck und einige ihrer Altersgenossen – hier nenne ich stellvertretend Bernhard Appel, Joachim Draheim (auch sie inzwischen Schumann-Preisträger), Ulrich Mahlert, Beatrix Borchard und Janina Klassen – aber eine neue, die Nachkriegsgeneration verkörperten und der Schumann-Forschung ganz neue Akzente verliehen haben. Ich möchte nicht wie der Blinde von der Farbe reden und die – für uns im Osten ohnehin kaum relevante – Achtundsechziger-Bewegung ins Spiel bringen, doch bin ich sicher, dass auch sie eine – im wesentlichen positive – Rolle im Denken der Genannten gespielt und ihre Ablösung von alten Denkschemata befördert hat.

 

Da muss ich nun ein Stichwort nennen, das lange in der Schumann-Forschung gespukt und uns, die wir damit zu tun hatten, schwer zu schaffen gemacht hat: die “Spätwerk-Diskussion“. Was ist damit gemeint? Es handelte sich um die leider von Clara Schumann herrührende, seitdem zäh eingewurzelte, von Generation zu Generation mindestens bis zu meinem Vor-Vorgänger, dem ansonsten verdienstvollen Georg Eismann, un-hinterfragt tradierte Vorstellung, Schumanns trauriges persönliches Schicksal, seine – wie man damals sagte – Geisteskrankheit, ja schließlich “geistige Umnachtung“ müsse auf die Kompositionen seiner späten Jahre negativ eingewirkt und sie letztlich entwertet haben. Ein besonders krasses Rezeptions-Beispiel bildete dabei bis weit in die 1970er Jahre hinein das erst 1937, also acht Jahrzehnte nach Schumanns Tod, an die Öffentlichkeit gelangte Violinkonzert d-Moll. Aber auch ein vermeintlich “kleines“ Werk wie der Klavierzyklus Gesänge der Frühe war betroffen: Ich entsinne mich, wie ich ihn einem unserer namhaftesten Pianisten schmackhaft zu machen versuchte, der ihn auch tatsächlich hier im Schumannhaus spielte, letztlich aber – ebenso wie unser damaliges Publikum – nichts damit anzufangen wusste.

 

Heute dagegen spielen auch junge und jüngste Pianisten dieses esoterische Werk gern und vielfach gut, wie sich anhand der letzten Schumann-Wettbewerbe 2000, 2004 und 2008, die ich genau beobachten konnte, ohne weiteres feststellen lässt. Dahinter steht aber nicht etwa eine “organische“ Entwicklung, sondern ein zähes Ringen inner- wie außerhalb der Sphäre der Schumann-Forschung, an dem – nun komme ich auf den Punkt – unsere beiden Preisträger von heute entscheidenden Anteil hatten und haben.

 

Wann und wie kamen wir in Kontakt miteinander? Das Robert-Schumann-Haus war ja, bevor es eine Schumann-Forschungsstelle in Düsseldorf gab, der einzige und wichtigste Anlaufpunkt für Schumann betreffende Fragen aller Art, wobei die Fragesteller nur die Postgrenze zu überwinden, wir, die Antwortgeber, allerdings mancherlei Restriktionen wie Korrespondenzverbot ins “NSW“ (“nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“) und besonders in die “BRD“ zu umschiffen und zu ignorieren hatten. So tauschten Michael Struck und ich die ersten Briefe bereits im Jahr 1980, während das erste Schreiben von Reinhard Kapp mich im September 1984, also vor beinahe 25 Jahren – einem Vierteljahrhundert, sagt man wohl – erreichte. Bis zum Anbruch der eMail-Zeit kamen so stattliche Korrespondenzmengen zustande, auf deren retrospektive Lektüre eines Tages, im sogenannten “Ruhestand“, ich mich schon freue.

Doch ich darf nicht zu persönlich werden, möchte nur noch die Beobachtung erwähnen, die auch mein Verhältnis zu Reinhard Kapp und Michael Struck einschließt, dass nämlich Schumann im allgemeinen verbindet und nicht trennt – so ergaben sich aus dem kollegialen Miteinander oftmals Freundschaften, die ins Persönliche reichten und, um zum Thema zurückzukehren, dem Brief den Besuch in Zwickau folgen ließen. Da waren beide Freunde seitdem mehrfach zu Gast, nicht zuletzt referierend bei einer Reihe unserer traditionellen »Arbeitstagungen zu Fragen der Schumann-Forschung«. Aber auch andernorts trafen wir oft zusammen, zuletzt als “Triumvirat“ im Mai 2006 an der Universität Bremen. Bei allen solchen Gelegenheiten nimmt man das Wort von Reinhard Kapp und Michael Struck – stets bedachtsam-wohlüberlegt, profund und druckreif formuliert, oft mit Humor vorgetragen – gern und mit hohem Respekt auf.

 

Meine Damen und Herren!

 

Es ziemt sich wohl, an dieser Stelle eine Zäsur zu setzen und den persönlichen Werdegang unserer beiden Laureaten zu skizzieren.

 

Reinhard Kapp stammt aus Hof an der Saale, also nicht nur aus unserer näheren Nachbarschaft (was ihm als Kind und Jugendlichem angesichts der Grenze wenig bewusst gewesen sein mag), sondern auch aus der Landschaft Jean Pauls, des großen Dichters und Schumann-Vorbildes. Er studierte nach dem Abitur Musikwissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft in Heidelberg sowie an der Freien Universität Berlin, u.a. bei Hans-Georg Gadamer und Rudolph Stephan, den er noch heute als Mentor verehrt. Nach dem Magisterexamen 1974 war er Assistent an der FU Berlin und erhielt 1981 einen Lehrauftrag an der dortigen Hochschule (heute: Universität) der Künste. 1982 promovierte er in Berlin. 1983-1992 arbeitete er als Redakteur in der Richard-Wagner-Forschungsstelle München und nahm Lehraufträge an der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität und eine Gastprofessur an der Gesamthochschule Kassel wahr. Seit 1993 ist er Ordentlicher Professor für Musikgeschichte an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien.

Michael Struck wurde in Hannover geboren. Er studierte 1973–1978 an der Musikhochschule und der Universität Hamburg Schulmusik, Privatmusikerziehung (Klavier) sowie Musik- und Erziehungswissenschaften und promovierte dort 1984. Zu seinen Lehrern zählte namentlich Constantin Floros. 1985 wurde er zum Wissenschaftlichen Mitarbeiter des Pilotprojekts einer neuen Johannes-Brahms-Gesamtausgabe berufen, leitet seit 1991 die Forschungsstelle Kiel und ist Mitglied der Editionsleitung der Gesamtausgabe. Er ist auch auf künstlerischem, pianistischem Gebiet sowie als Musikjournalist und Musikkritiker tätig und war im vergangenen Jahr Mitglied der Klavierjury beim XV. Internationeln Robert-Schumann-Wettbewerb. Zu seinem Arbeitsspektrum gehören Fragen der Öffentlichkeitsarbeit ebenso wie die Mitarbeit in mehreren kulturellen Gremien des Landes Schleswig-Holstein.

 

Was unsere beiden Schumann-Preisträger miteinander verbindet – ich habe es schon angedeutet –, ist zunächst ihr engagierter Einsatz für das Schumannsche Spätwerk, der in ihren fast gleichzeitig 1984 erschienenen Dissertationen beredten Ausdruck fand und zu einem Paradigmenwechsel auf diesem Gebiet beitrug. Jedoch: Unterschiedlichere Herangehensweisen an ein brennendes Problem lassen sich kaum denken.

 

Studien zum Spätwerk Robert Schumanns nannte Reinhard Kapp sein bei Hans Schneider in Tutzing erschienenes Opus magnum, das – nicht mehr durchgehend mit der eigentlichen Dissertation identisch – in zwei Mammutkapiteln und nicht weniger als 1734 Anmerkungen die Vorgeschichte der Schumannschen Orchesterkomposition und sodann die mannigfachen Aspekte des bereits erwähnten Violinkonzerts d-Moll und seines kompositorischen Umfelds paradigmatisch aufrollt. Ich muss gestehen, mir schwirrte der Kopf bei der erstmaligen Lektüre des gerade mal 300 Seiten umfassenden, hochkonzentrierten Werkes, aber je mehr ich mich hinein vertiefte, desto mehr wuchs meine Bewunderung und Zustimmung zum reichen Inhalt wie zu Kapps ebenso akribischer wie phantasievoller Darstellungsweise. Auch wenn wir, falls Sie mir dieses Epitheton gestatten, es mit einem quasi aristrokratischen Buch zu tun haben und die Zahl seiner Leser bis heute die der “Happy Few“ nicht übersteigen mag, ist und bleibt es doch ein absolut unverzichtbares Buch.

Schon der Titel von Michael Strucks 750-Seiten-Wälzer verrät Wesentliches über seine Herangehensart: Die umstrittenen späten Instrumentalwerke Schumanns. Untersuchungen zur Entstehung, Struktur und Rezeption (der vom Verlag, Karl Dieter Wagner in Hamburg, zunächst unterschlagene Untertitel musste nachträglich eingeklebt werden). Hier tun sich ein kompendiumsartiger Aufbau und eine provokativ-pädagogische Ader kund, die dem Leser den Zugang zur spröden Materie – dem wesentlichsten Stück des Schumannschen Spätschaffens – nach Möglichkeit ebnen möchten. Insofern ist es ein demokratisches Anliegen, das Struck leitete, und ein demokratisches Buch, wobei auch hier der “Demos“ wohl nicht gerade nach Tausenden zu messen sein wird. Aber zur Hand nehmen muss “den Struck“, wer sich überhaupt mit Schumanns spätem Instrumentalschaffen auseinandersetzen möchte.

 

Sehr unterschiedliche Bücher, wie gesagt, doch sei mir gestattet, Michael Struck zu zitieren, der dem Kollegen Kapp erst kürzlich schrieb: »Die Lektüre Deiner imponierenden Arbeit stürzte mich [...] erst in eine gewisse Sinnkrise, ehe ich dachte, dass in der Musikwissenschaft bzw. Schumann-Forschung doch genügend Platz für zwei so unterschiedliche Ansätze sein sollte.« Das kann ich als Laudator hier nur unterstreichen.

 

Dass beide Forscher Schumann treu geblieben sind, auch wenn der eine sich im Tagesgeschäft zeitweise Richard Wagner, der andere ziemlich dauerhaft Johannes Brahms zugewandt hat, darf ich hier voraussetzen, und in der Tat ist es auch so. Ich könnte es mir leicht machen und jeweils die lange Liste ihrer Veröffentlichungen vortragen, doch kann man die heutzutage natürlich im Internet finden, so dass ich einige wenige herausragende Arbeiten nennen und gleichzeitig zur Lektüre empfehlen möchte, wobei ich im voraus um Verzeihung bitte für etwaige Auslassungen von Wichtigem.

Im Schott-Verlag Mainz hat Reinhard Kapp 1981 eine Studienpartitur von Schumanns Rheinischer Sinfonie mit umfangreichen Erläuterungen und einer noch heute lesens- und bedenkenswerten Diskographie herausgegeben. In der meines Wissens leider irgendwann eingegangenen Reihe Meisterwerke der Musik erschien von Michael Struck 1988 ein instruktives Büchlein über das Schumann-Violinkonzert, das beiden Laureaten ebenso wie mir selbst ans Herz gewachsen ist. Auf “klassischen“ Zitaten beruhen zwei miteinander verwandte, wenn auch zeitlich weit auseinanderliegende Aufsätze zur musikalischen Interpretation, die mir besondere Freude gemacht haben: Reinhard Kapps Darstellung Über einige allgemein verbreitete Fehler in den Aufführungen Schumannscher Musik (zugrunde liegt ein Schumann-Zitat), in Schumann-Studien 2 von 1989 nachzulesen, und Michael Strucks Vierzehn Arten, Schumann zu verfehlen (angelehnt an Hanns Eislers Filmmusik-Variationen Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben), 2008 im jüngsterschienenen Band 9 unserer Reihe abgedruckt. Den langen und nicht ganz einfachen Entstehungsprozess von Kapps großem Aufsatz Schumann nach der Revolution. Vorüberlegungen, Statements, Hinweise, Materialien, Fragen, der 1993 in der Düsseldorfer Reihe Schumann Forschungen erschien, habe ich mit lebhafter Anteilnahme begleitet. Am selben Ort findet sich Strucks an zwei Spätwerken, der Chorballade Das Glück von Edenhall und der Fest-Ouvertüre mit Gesang über das Rheinweinlied, festgemachter programmatischer Beitrag Kunstwerk-Anspruch und Popularitätsstreben. Und schließlich darf ich in aller Bescheidenheit zwei mir gewidmete Beiträge nennen: Michael Strucks Aufsatz in Schumanniana nova (2002) unter dem Titel Träumerei und zahl-lose Probleme. Zur leidigen Tempofrage in Robert Schumanns Kinderscenen sowie Reinhard Kapps für den Cambridge Companion to Schumann 2007 verfasster, im Internet vollständig im deutschen Original nachlesbarer Aufsatz Schumann in his time and since bzw. Schumann für die Mit- und Nachwelt.

 

Ebenso wie ich persönlich unseren beiden Laureaten herzlich zu danken habe, haben wir alle es für ihre wegweisenden Beiträge und Veröffentlichungen. Dass ihre Interessen sich nicht auf Schumann und nicht einmal auf Musikalisches allein beziehen, kann ich hier nur am Rande erwähnen, doch glauben Sie mir sicher, wenn ich am Ende auch die Vielseitigkeit der Ausblicke und Ziele beider Musikforscher betone. Sie folgen damit einer von Schumanns Haus- und Lebensregeln, die da lautet: »Sieh dich tüchtig im Leben um, wie auch in anderen Künsten und Wissenschaften«, und die uns lehrt, nicht unser eigenes Tun für das Einzige und Größte zu halten.

 

Es wird nun Frau Oberbürgermeisterin Dr. Findeiß die beiden Preise übergeben, und zum krönenden Abschluss hören wir eines der schönsten Schumannschen Spätwerke, sein Trio g-Moll aus dem Jahre 1851.

 

Herzlichen Glückwunsch unseren Preisträgern, und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.